“Azul” hat letztes Jahr so ziemlich jeden
Preis abgeräumt: “Spiel des Jahres”, “Deutscher
Spielepreis”, sowie noch weitere renommierte Auszeichnungen in anderen
Ländern Europas. Ja, sogar der “Knobelpreis” für das nach Meinung der
“Ritter der Knobelrunde” beste taktische Spiel des Jahres 2018 ging
an “Azul”.
Bei so viel Erfolg erwartet sich das Publikum
automatisch Nachschub, dem jeder Verlag selbstverständlich – schon aus rein
wirtschaftlichen Gründen – gerne nachkommt. Autor Michael Kiesling hat sich
aber nicht darauf beschränken lassen, bloß – wie sonst üblich – das Spielsystem
mit zusätzlichen Fliesenfarben, neuen Aufgaben in Form von anders gestalteten
Wänden, o. ä. zu erweitern. Er bringt mit “Azul – Die Buntglasfenster von
Sintra” ein vollkommen eigenständiges Spiel heraus, das sich
lediglich des Grundmechanismus des Originals bei der Auswahl der Spielsteine
bedient.
Wie der Untertitel bereits verrät, widmen wir uns hier
nicht dem Fliesenlegen, sondern betätigen uns als Glaser, um dem allen Anschein
nach äußerst anspruchsvollen Monarchen König Manuel I. von Portugal nach der
Fertigstellung seines Palastes in Evora den nächsten Prunkbau kunstvoll
auszuschmücken. Diesmal sollen wir die Fenster seines Palasts in Sintra
farbenfroh verzieren.
Jeder von uns hat seinen eigenen Palastteil,
dessen Fenster mit bunt schimmernden Glassteinen gefüllt werden sollen. Für die
acht senkrechten Streifen (zufällig ausgelegt) sind je fünf Glassteine vorgesehen,
welche jeweils eine von fünf Farben aufweisen: Durchsichtig, gelb,
orangefarben, rot oder blau. Dabei besteht – bis auf eine Ausnahme – jeder
Streifen lediglich aus einer einzigen Farbe oder einer Kombination aus zwei
verschiedenen Farben.
Das benötigte Baumaterial – die Glassteine –
bekommen wir direkt aus der Fabrik. Auf jedes Manufakturplättchen werden
– zufällig aus einem Stoffbeutel gezogen – 4 Glassteine gelegt. Den Spielablauf
kennen wir weitgehend schon aus unserem früheren Job als Fliesenleger. Sind wir
an der Reihe, führen wir nacheinander die folgenden 3 Schritte durch:
1. Wir nehmen alle Glassteine einer Farbe, entweder von einem Manufakturplättchen
unserer Wahl (in diesem Fall schieben wir die restlichen Glassteine in die
Tischmitte), oder aus der Tischmitte. Sind wir bei Letzterem die ersten in
dieser Runde, erhalten wir den Startspielermarker, müssen dafür aber unseren
Marker auf der “Bruchglasleiste” nach unten schieben.
2. Wir legen die Glassteine auf einen Streifen. Dabei dürfen wir die Glassteine nur auf
farblich passende Felder eines einzigen Streifens platzieren, über dem sich
unsere Glaserfigur befindet. Der Glaser darf vor dem Legen zu eine Streifen
gezogen werden, allerdings nur zu einem Streifen, der sich rechts von ihm befindet.
Konnten wir nicht alle genommenen Glassteine unterbringen, kommt der Rest als
Bruchglas in den Glasturm, was allerdings unseren Marker auf der
Bruchglasleiste wieder entsprechend viele Felder nach unten rutschen lässt.
3. Wir überprüfen, ob der Streifen vollständig
ist. Ist dies der Fall,
räumen wir zuerst die Glassteine ab. 1 Stein wird auf eines der beiden
Palastfenster unterhalb des Streifens gelegt, der Rest kommt in den Glasturm.
Danach wird der Streifen umgedreht oder ganz aus dem Spiel entfernt, je nachdem
ob er bereits gewertet wurde oder nicht.
Danach erhalten wir dafür Punkte. Neben einem
fixen Punktewert, der auf dem entsprechenden Palastteil aufgedruckt ist, gibt
es noch Extrapunkte, und zwar 1 Punkt für jeden Glasstein, der mit der für diese
Runde zugelosten Bonusfarbe übereinstimmt, sowie für alle Palastteile rechts
vom gewerteten Fenster, welche ebenfalls Glassteine beinhalten.
Wurden alle Glassteine von den Manufakturplättchen und
der Tischmitte geleert, endet die Runde. Alle Manufakturplättchen werden
wieder vom Stoffbeutel bestückt, und die nächste Runde beginnt mit dem neuen
Startspieler. Nach der 6. Runde endet das Spiel.
In einer Schlusswertung bekommen wir noch ein
paar Punkte für verbliebene Glassteine, Punkteabzüge für unsere Position auf
der Bruchglasleiste, sowie Bonuspunkte für belegte Palastfenster. Haben wir nun
die meisten Punkte auf der Zählleiste, haben wir uns als wahre Meister des
gläsernen Mediums und des Lichts erwiesen und nebenbei auch das Spiel gewonnen.
Beim Spielmaterial braucht “Azul – Die
Buntglasfenster von Sintra” keinen Vergleich mit dem “Spiel des
Jahres 2018” zu scheuen. Statt der Keramik-ähnlichen Spielsteine finden
wir nun durchsichtige Spielsteine, welche ein wenig wie quadratische
Zuckerl aussehen und die farbigen Verzierungen in den Glasfenstern darstellen.
Der Stoffbeutel, aus dem sie gezogen werden, ist hier in rosa gehalten. Der
Wertungsplan ist meiner Meinung nach ein bisschen dünn ausgefallen, dafür fällt
der praktische Glasturm, in den das Bruchglas wandert, positiv auf.
Der größte Unterschied zu “Azul” liegt in
den Spielertableaus, welche modular für jeden Spieler aus 8 Streifen
individuell zusammengesetzt werden. Damit gibt es bereits zu Beginn
unterschiedliche Voraussetzungen für jeden Spieler. Allerdings muss der
eine Streifen jedes Spielers, auf dem 2 graue Jokerfelder abgebildet sind, auf
jeden Fall anfangs auf die Rückseite gewendet werden.
Dies sorgt dafür, dass die Spieler von Anfang an verschiedene
Präferenzen haben. Für den einen wären beispielsweise 5 weiße Steine ideal,
der andere bräuchte eher 2 oder 3 rote Steine, ein Dritter hätte zwar auch
gerne weiße Steine, benötigt davon aber nicht mehr als 2. Diese
unterschiedliche Ausgangslage sorgt dafür, dass es noch wichtiger als im
Grundspiel ist, die Optionen der Mitspieler zu berücksichtigen, zu beachten,
was sie brauchen und was nicht.
Besonders interessant finde ich den Glaser.
Will man Steine nehmen und einsetzen, darf man sie ja nur auf einen Streifen
mit passenden freien Feldern platzieren, unter dem sich die Figur des Glasers
befindet. Vor dem Zug darf man den Glaser noch bewegen, aber nur auf einen
Streifen, der rechts von seiner aktuellen Position liegt. Logischerweise
wird man irgendwann einmal keine passenden Steine vorfinden, wodurch man
gezwungen ist, die alternative Aktion zu wählen: Den Glaser zum linken
Streifen zurückziehen.
Diese Aktion darf man aber jederzeit auch freiwillig
wählen, außer der Glaser befindet sich bereits auf dem äußerst linken Streifen.
Dies kann manchmal taktisch sinnvoll sein, um für den nächsten Zug wieder mehr
Auswahl vorzufinden. Und oft hilft dies als “Verzögerungstaktik“,
wenn man nur mehr eine schlechte Auswahl an Steinen vorfindet, welche viele
Minuspunkte einbrächte. Damit lässt man dann den nachfolgenden Spieler in den
sauren Apfel beißen. Auf jeden Fall bringt der Glaser weitere Aspekte ins
Spiel.
Noch etwas unterscheidet die beiden Spiele. “Azul
– Die Buntglasfenster von Sintra” bietet mehr Möglichkeiten zu punkten,
ist dafür aber auch um eine Spur komplexer. Besticht das
königlich-portugiesische Fliesenlegen durch seine Geradlinigkeit und seine
Schnörkellosigkeit, sind beim Glasfenster-Verzieren nun doch mehrere Sachen zu
beachten. Neben den Punkten für die Fertigstellung einer Leiste (zwischen 1 und
4 Punkte) kann man noch Zusatzpunkte für fertiggestellte Fenster rechts von der
aktuellen Leiste, sowie Bonuspunkte für farblich mit dem Rundenanzeiger
übereinstimmende Steine erzielen. Und bei der Schlusswertung kann man noch
weitere Bonuspunkte erhalten.
In der Praxis ergibt dies zwei grundsätzliche
Strategien: Entweder man arbeitet die Streifen schön langsam und von links
nach rechts ab, was durchaus Sinn macht, bringen die ersten Streifen doch mehr
Punkte, außerdem verliert man weniger Züge durch das Rückversetzen des Glasers.
Oder aber man konzentriert sich anfangs auf die rechten Streifen, um später die
wertvollen Zusatzpunkte einheimsen zu können, allerdings mit dem Nachteil,
mehrere Leerzüge in Kauf nehmen zu müssen.
Welche Aktion man aber zu welchem Zeitpunkt
durchführt, hängt viel von den Mitspielern ab, von deren Optionen und
Möglichkeiten. Ich bin mir selbst nach mehreren Partien noch nicht sicher, wie
groß der eigene Einfluss auf den Spielablauf tatsächlich ist, und wie viel sich
einfach so ergibt. Jedenfalls ist ein gewisses Maß an Flexibilität sicher kein
Nachteil.
Auch in dieser Version ist “Azul” kein Spiel für Strategen und Spielexperten, auch wenn diese dennoch dran Gefallen finden können. Die Zielgruppe ist eindeutig der Gelegenheitsspieler. Bleibt nur mehr eine Frage offen: Braucht man “Azul – Die Buntglasfenster von Sintra”, wenn man bereits “Azul” sein eigen nennt? Die Antwort ist ein klares “Jein!”. Es bietet zwar mehr Abwechslung, vermittelt aber doch ein sehr, sehr ähnliches Spielgefühl.
Wertung: 
Von Franky Bayer